Dr. Michael Dittmar hat zwischen 1993 und 2020 am Institut für Teilchenphysik in Zürich und beim CERN gearbeitet. Er hat unter anderem zum Higgs-Boson geforscht, aber parallel auch Publikationen bezüglich Energie und Nachhaltigkeit veröffentlicht. Während rund 15 Jahren hat er die Vorlesung „Energy and Environment in the 21st Century (I & II)“ gehalten, welche nun von Dr. Peter Morf fortgeführt wird.
Es ist November 1989, es herrscht Ausnahmezustand. Tag und Nacht arbeiten die CERN-Physiker an der Auswertung der neuen LEP-Daten. Zum ersten Mal können Elektronen und Positronen auf Energien bis über 45 GeV beschleunigt werden. Z-Bosonen tauchen in wachsender Anzahl in den Detektoren auf. Die Teams vertiefen sich in die Datenanalyse und berechnen die Massen und Zerfälle der Teilchen mit beispielloser Genauigkeit. Wird die Natur vom Kernstück der theoretischen Physik abweichen? Werden hypothetische supersymmetrische Teilchen entdeckt? Das Standardmodell steht auf dem Spiel.
Endlich: Die von Michael Dittmar initiierte Publikation ist raus, ein kleiner Beitrag zum grossen Puzzle geleistet und Weihnachten steht vor der Tür. Ein lang ausgebliebener Moment der Ruhe. Michaels Gedanken entspannen sich, der Teilchen-Tunnelblick weitet sich und… langsam dämmert ihm die neue Realität: Die Mauer ist gefallen, die Grenze zwischen Ost und West zerbröckelt. Die Nachricht hatte ihn sehr wohl erreicht, seine Augen hatten die Schlagzeilen der letzten Wochen gesehen. Doch die Euphorie der Forschung um den 27 km langen LEP-Tunnel hatten sein Bewusstsein ganz erfüllt. Zeit zum Aufwachen.
Erstaunlich an der Geschichte ist, dass sich Michael sonst durchaus für Politik interessiert. Aufgewachsen im Klima des Kalten Krieges wurde seine Hamburger Schul- und Studienzeit von Debatten zu Cruise-Missiles begleitet. „Pershing als amerikanische Antwort auf die russischen Raketen… da ist einem schon mulmig geworden“, erinnert sich der heute 65-Jährige. Das Ungeheure dieser Waffen, die aus Atomkernen freigesetzten Energie, liessen denmangehenden Physiker auch in seinem Studium nicht unbeeinflusst. Als sich viele Kollegen in Richtung Nuklearphysik spezialisierten, war für ihn klar: „Lieber keinen Schaden anrichten“. Die Grundlagenforschung der Teilchenphysik schien noch genügend weit entfernt von der Anwendung. So landete er 1980 mit einer Diplomarbeit zur Produktion von „Vektormesonen in e+/e- Annihilation-Jets“ am Teilchenbeschleuniger seiner Heimatstadt: dem DESY in Hamburg.
Nicht nur seine studentische Freude am Erforschen konnte Michael dort weiterführen, auch die Möglichkeit, seinen Mund aufzumachen, nutzte er gern. Zusammen mit Kollegen formierte er eine kleine Friedensgruppe am DESY und setzte sich weiterhin gegen die Stationierung amerikanischer Raketen in Deutschland ein. Dass das Zusammenkommen solch gleichgesinnter Menschen jedoch nicht immer so einfach ist, sollte Michael erst noch erfahren.
Zeitsprung ins Jahr 1985: Michael ist soeben als frisch promovierter Teilchenphysiker am CERN angekommen und wohnt nun in der Nähe von Genf. Sein Traum vom ewigen Studentenleben geht ein Stück weiter – er kann neue Daten nach Hinweisen durchforsten auf das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Doch nicht nur tiefgründige Teilchenphysik gehört zum Alltag dieser einzigartigen Forschungsgemeinschaft. Der baldige Neutrino-Nobelpreisträger Jack Steinberger organisiert auch gut-besuchte Kolloquien zu Friedensfragen, während sich die Raketen des Kalten Krieges weiter aufheizen. Und um diese Themen konkreter zu bearbeiten, kommt es zu einem Treffen scheinbar Gleichgesinnter. „Was wollen wir nun machen?“, lautet Steinbergers Eingangsfrage. Stille. „Wir hatten am DESY so eine Friedensgruppe, da haben wir Aktionen gegen die Pershing-Raketen organisiert…“, wagt Michael, einen Vorschlag beginnend. „Pershing? Und was habt ihr gegen die russischen Raketen gemacht?!“ tönt es aus der Runde; „Nun ja, eigentlich wollten wir gar keine Raketen…“; „Sie sind ein Kommunist!“; „Hören Sie sich doch erst seine Argumente an!“; „Seinen Sie leise, Sie sind bloss eine Frau!“; „Wie wagen Sie es,“… So in etwa verlief das erste und einzige Treffen dieser Friedensgruppe. Michael schüttelt den Kopf.
Es ist September 2001, es herrscht Ausnahmezustand. Die aufgewühlten Gesprächsfetzen, die Michael von entgegenkommenden Wanderern im Yosemite National Park aufschnappt, lassen sich nur schwer zusammenbauen. Palästina, Bush, Hochhäuser… Vor den Türen eines geschlossenen Museums, umgeben von weitläufiger Berglandschaft und stillen Seen, erfährt er schliesslich die surreale Nachricht aus New York. Den Bericht noch kaum verdaut, kehrt er zurück nach Chicago. Er hatte sich zu einem Sabbatical am dortigen Fermi-Lab entschlossen, um Erfahrung am Proton- Antiproton Beschleuniger zu sammeln. In einem Jahr würde er mit dieser ans CERN zurückkehren, wo sich nun das LHC inklusive des CMS Experiments in Bau befindet. Doch im Herbst 2002 hat Michael nicht nur neues experimentelles Know-how im Gepäck. Der gewaltige Schock von 9/11 und die Kriegsvorbereitungen gegen den Irak haben ihn überzeugt, die Friedensbewegung auch ans CERN zu bringen. Zur Zeit seiner Rückkunft war das Bewusstsein auch in der europäischen Forschungsgemeinschaft bereits stark gestiegen, Friedensgruppen schiessen „wie Pilze aus dem Boden“, Unterschriften für „Not in Our Name“ – eine Kampagne gegen die Kriegspolitik der amerikanischen Regierung – werden gesammelt. Im Zuge dieser Dynamik entsteht der Klub „conCERNed for humanity“.
Es folgen etliche Jahre voller Austausch und Aktivität, es gibt regelmässige Diskussionsabende und der Klub nutzt auch die Nähe der UNO, um renommierte Redner zu Vorträgen am CERN einzuladen. Parallel läuft auch die impulsgebende Kolloquiums-Reihe
„Science in Society“. Angesichts der zunehmenden Klimaproblematik sowie der ungebremsten Zerstörung der Biosphäre kommt neben der Friedens- auch die Umweltsituation unseres Planeten in beiden Foren immer stärker zur Sprache.
Dieses Thema ist für Michael nicht neu. Im Gegenteil: 1972 hatte sein Biologie-Lehrer ihm „The Limits of Growth“ vorgestellt – ein einschlägiger Bericht über den Zwiespalt von finiten Ressourcen versus exponentielles Wachstum in Wirtschaft und Bevölkerung. Das Spielen mit Exponential-Funktionen und Nachrechnen von Modellen war für den jungen Michael ein Lieblings-Zeitvertreib und so stand schon früh für ihn fest: „Unbegrenztes Wachstum ist Schwachsinn“. In den 1990ern werden Stimmen mit ähnlicher Meinung auch in der Politik immer lauter, die Grenzproblematik mitsamt Schlagwörtern wie „Peak Oil“ stehen nun bei UNO-Gipfeln im Zentrum von vielen Reden und noch mehr Konferenzen. Doch diese Debatten verschaffen wenig Klarheit und so beschliesst Michael neben seiner beruflichen Forschung und seinem conCERNed- Engagement, auch ein Paper ausserhalb der Teilchenphysik zu publizieren. „Ich musste die Daten für mich selbst ordnen“, lautet das persönliche Ziel. 2004 erscheint „Man-made climate change: Facts and fiction“ auf dem arXiv, gefolgt von weiteren Artikeln und der zweiteiligen ETH-Vorlesung „Energy and Environment in the 21st Century“. Insbesondere auf Publikationen zur Nachhaltigkeitsproblematik sowie seiner These, Kernfusion zur Energieerzeugung auf unserem Planeten sei nicht realisierbar, blickt er mit etwas Stolz zurück. Das Gefühl, den Elfenbeinturm der Teilchenphysik verlassen zu haben, macht ihn zufrieden. Die Tatsache, dass seine Publikationen in Physiker-Kreisen kaum wertgeschätzt werden, stört ihn dabei (nur ein) wenig.
2015 erhält Michael dahingegen eine E-Mail, die nicht nur wenig Anerkennung, sondern direkte Ablehnung bezeugt. Züge der Enttäuschung durchscheiden sein sonst so freudig-schelmisches Gesicht. Die Staff Association des CERN möchte den Klub schliessen. Der Grund? „Gewisse Gelbgeber-Länder könnten manche Themen falsch verstehen“, erfährt Michael auf Umwegen. Was er heute dazu sagen möchte? „Wenn man etwas extrem Spezialisiertes und Faszinierendes macht, dann kann man leicht vergessen, dass es andere Probleme gibt… Aber wer wird sich für das Higgs-Boson interessieren, wenn die Welt in hundert Jahren kaputt ist?“
Es ist Dezember 2020, es herrscht Ausnahmezustand. Ein schwieriges Jahr dominiert von Corona geht zu Ende, das Leben vieler ist voller Fragezeichen. Doch nicht alles in diesem Jahr war negativ, ganz im Gegenteil: Das Physik-Department unserer ETH ist zur Tat geschritten, hat eine umfassende Analyse seiner CO2-Emissionen verfasst und eine Roadmap bezüglich deren Reduktion offiziell verabschiedet. Michael selbst war ebenfalls in der Arbeitsgruppe involviert – der Meilenstein lässt ihn strahlen. Auch Physiker, die per Experiment und Theorie die Grundlagen unserer Natur erforschen, dürfen die Augen vor den Krisen der heutigen Zeit nicht zu machen. Denn auch als Physiker ist man immer Teil der Gesellschaft. Das ist die Botschaft, mit der die Studenten-Generation von heute in die Welt aufbrechen soll: „Verfolge deine Talente und Interessen, baue dir ein solides Standbein in der Physik auf, aber vergesse nicht die echten Probleme der Realität, in der du lebst“.
Über die Autorin
Anna Knörr hat ihren Bachelor in Physik an der ETH abgeschlossen und setzt derzeit ihr Studium am Perimeter Institute in Kanada fort. In ihrer Zeit an der ETH war sie Präsidentin der Student Sustainability Comission, Teil der CO2 Working Group am D-PHYS und eine der Initiantinnen dieses Projekts.